Die `Causa Böhmermann` – Journalisten im Argumentationszwang

Politik ist immer polarisierend und seit jeher durch die Redekunst geprägt. Nicht selten erlangt Macht, wer rhetorisch gewandt ist, nicht etwa der, der die beste Idee hat. Nein, im Großen und Ganzen steht und fällt der Erfolg aller Politiker*innen damit, sich selbst gut zu präsentieren, sich quasi gut zu verkaufen.
Seit die Medien den Massen zugänglich und eine Flut an Informationen jederzeit für alle Welt einsehbar geworden ist, hat sich auch die politische Selbstdarstellung deutlich gewandelt. Einerseits wurde die Präsentation durch die vielen Wege der Veröffentlichung vielfältiger, andererseits erschwert gerade dies es den Rezipierenden häufig, sich einen wahrheitsgemäßen Überblick zu verschaffen.
Nahezu jede denkbare Positionierung findet ihre Darstellung in den Medien und vor allem Online. In den meisten Fällen werden Artikel noch durch eine Vielzahl an Kommentaren ergänzt und – liest man diese Kommentare mit – gewissermaßen auch verändert. Durch den Eingriff der Rezipierenden schwingt nicht mehr alleine die Autorenintention in dem Geschriebenen mit, sondern den Lesenden werden direkt mögliche Interpretationen und Lesarten, Kritik und Zustimmung mitgeliefert.
Im Folgenden werden die Argumentationsstrukturen am Beispiel der Böhmermann-Affäre in den Kommentaren verschiedener Zeitungen untersucht, um so gegebenenfalls bestimmte Positionierungen zu erkennen und heraus zu stellen, wie die jeweilige Argumentationsstruktur die Lesenden beeinflusst und zu deren Meinungsbildung beiträgt.

Die ‚Causa Böhmenmann‘ – Journalisten im Argumentationszwang
Wer andern eine Grube gräbt…

Behaglich hatte es der selbsternannte „blasse, dünne Junge“, heute national bekannt als „Staatsaffäre Jan Böhmermann“, in seinem Spartensender ZDF neo. In amerikanischer Late-Night-Manier, und doch fernab des allzu großen Publikums, ließen ihn die Intendanten des Senders auf rundfunkgebührenfinanzierter Basis seine mal besseren, mal schlechteren Späße treiben. Wer Böhmermanns Treiben aus dem Augenwinkel betrachtet hat, war sich sicherlich zweierlei Dinge bewusst: Er befand sich, trotz unpopulärer Sendezeit und Sendeort, nicht zuletzt aufgrund seiner Internetpräsenz auf einem aufsteigendem Ast. Und dass nicht nur er, sondern auch andere Satire-Formate mit Vorliebe Politiker auf den Arm nahmen, siehe die Sache mit Varoufakis oder das Video der extra3-Redaktion, das wohl als Urvater Böhmermanns derzeitiger medialer Omnipräsenz gelten darf: Dem Gedicht „Schmähkritik“, vorgetragen in der Sendung „Neo Magazin Royal“ am 31. März 2016.

Rock the Casbah

Wegen des sich anbahnenden, alljährlichen Sommerlochs, das allem Anschein nach nur von der königlichen Garde der Fußballreporter vor so uninteressanten Themen wie TTIP gerettet werden konnte, erwachten viele Journalist*innen verzückt aus ihrem unzyklischen Winterschlaf: Da war er endlich, der langersehnte Skandal! Da hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, statt sich über die endlich publik werdende richtige Aussprache seines Namens zu freuen, doch tatsächlich besagten Jan Böhmermann angezeigt! Und weil die Beleidigungen so tief saßen, schlug das Staatsoberhaupt einen Weg ein, der wohl für die größte Überraschung sorgte: Er klagte nicht nur auf dem zivilrechtlichen Weg, nein, seine überaus fähigen Anwälte kramten einen deutschen Paragrafen hervor, den die deutschen Jurist*innen die letzten Dekaden äußerst stiefmüttlerlich behandelt haben. Da geht es doch tatsächlich um Majestätsbeleidigung, irgend eine Diplomatenfloskel.

Fakt ist: Alles, was Erdoğan tut, ist legitim und rechtens. Da hat sich Böhmermann etwas eingebrockt, das jedem*r deutschen Bürger*in widerfahren kann, der*die andere beleidigt. Über den satirischen Rahmen des Gedichts müssen Gerichte verfahren, was soweit wohl kaum eine Stellungnahme der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hervorgerufen hätte. Wäre da nicht dieser verflixte Paragraf 103. Dieser wiederum untersteht dem Paragrafen 104a, der vorsieht, dass die Bundesrepublik die Strafverfolgung zulässt – oder eben nicht.

Ja klar, äh nein, ich mein‘ – Jein!

Einem Politiker oder einer Politikerin kann wohl kaum etwas Unangenehmeres geschehen, als sich vor quasi versammeltem Volk zu einer Frage mit einem „Ja“ oder

„Nein“ positionieren zu müssen. Es ist nicht so, dass sich nur die Menge an Böhmermann-Fans für den Fall interessiert. Der abstrakte Begriff der Kunstfreiheit wurde neben der persönlichen Haltung gegenüber Böhmermann der wohl zentralste Begriff der Diskussion – und erfasste alle Bürger*innen jeglicher Schichten in der Republik. Und als Angela Merkel am 15. April 2016 bezüglich der Affäre verkündete, dass die Strafverfolgung aufgenommen und der Paragraf der altertümlichen Majestätsbeleidigung bis 2018 abgeschafft werden solle, war die Diskussionsflut in Deutschland kaum mehr zu bremsen: Merkel als Volksverräterin hier, Merkel als

Verteidigerin der Gewaltenteilung da. #freeboehmi schallt es durch die Weiten des Webs, auch wenn Jan Böhmermann seine selbst beschlossene mediale Auszeit (wenn auch unter Polizeischutz) noch auf freiem Fuß genießt.

So wenig, wie die Kanzlerin eine allseits zufriedenstellende Entscheidung hätte treffen können, kann es überhaupt irgendwer. Da die Diskussion so allgegenwärtig und leidenschaftlich geführt wurde, sahen sich auch die Journalist*innen diverser Tageszeitungen und -zeitschriften gezwungen, abseits der seriösen Berichterstattung, den Beschluss der Kanzlerin subjektiv zu bewerten. In den Kommentarspalten lokaler bis nationaler Presseorgane spiegelt sich seither die Denkwelt der Deutschen in Bezug auf die Böhmermann-Affäre wieder. In geschriebener Form entwickeln die Journalist*innen Thesen und Theorien und reihen Argumente aneinander, um ihren Standpunkt zu der Aussage Merkels plausibel zu gestalten und das Verständnis des Lesenden zu erhaschen. Wer auch immer hierzu in einem öffentlichen Rahmen Stellung bezieht, sollte beim Abwägen der Argumentation und der Wortwahl höchst penibel vorgegangen sein, schließlich kann hier mittlerweile irgendwie jeder mitreden. Zumindest möchte man das meinen – eine Antwort birgt der Blick in die nun folgenden Kommentare.

Stern: „Warum Merkel schlauer ist als der schrille Rest“

Sophie Albers Ben Chamo, Redakteurin für Kultur, Gesellschaft und Israel-Themen, möchte im „stern“ beweisen, warum Merkel schlauer als der Rest ist. Da die Grundlage, warum Merkels Entscheidung überhaupt nicht unverständlich sein dürfte, schon jemand anderes klug formuliert hat, zitiert sie ihren Kollegen Sascha Lobo:

Ihr denkt also, dass Merkel die Gewaltenteilung hätte missachten sollen, um gegen Erdogans Missachtung der Gewaltenteilung zu protestieren?

Natürlich kann man auch an dieser nicht weit ausgeholten These einiges kritisieren, wenn man denn möchte. Dies soll jedoch nicht weiter Gegenstand der genaueren Betrachtung sein. Albers Ben Chamo zitiert, und das ist gut so. Und sie zitiert fleißig, so auch den Kollegen und Rechtsexperten Heribert Prantl, auf dessen Wissen sie in der Verteidigung der Abschaffung des Paragrafen 103 zählt. So schnell ist Merkels Clou skizziert: Als rechtschaffene Demokratin war es notwendig, das Verfahren zuzulassen, und die Wahrung deutscher Interessen sichert sie durch den Wegfall des besagten Paragrafen, der das Verfahren früher oder später nichtig machen wird. Der Weg ist geebnet für ein Fazit. Die Souveränität der Kanzlerin bleibt bestehen, die zivilrechtliche Klage wird für Böhmermann schon gut ausgehen und Erdoğan steht so oder so am Ende als Verlierer da.

In ihrer Argumentation hat sich die Autorin nicht allzu weit aus dem Fenster gelehnt. Was sie schreibt, ist nachvollziehbar und nach jeweiligem Ermessen des Lesers mehr oder weniger plausibel. Wäre sie nur ähnlich vorsichtig vorgegangen mit dieser Formulierung!

„Denn bei aller Komplexität des Falles beweist Merkel zudem mal wieder mehr Weitsicht und Sachverständnis als der schrille Rest.“

Dort stehen also die beiden begriffsbreiten Wörter „Weitsicht“ und „Sachverständnis“ zwischen zwei ziemlich subjektiven Aussagen, Die gute Merkel vs. Der merkwürdige Rest. Das ist argumentativ nicht völlig falsch, bloß lässt das Medium nur bedingt Austausch zwischen Leser*in und Autorin zu. In einem Gespräch könnte man erfragen:

„Warum mal wieder?“ Und das ist leider eine Verständnisproblematik, die sich durch den Kommentar schleicht.

In der tagtäglichen Argumentation ist es nicht unüblich, sogenannte Prämissen unerwähnt zu lassen, die für das Verständnis des Arguments notwendig sind. Dies ist in vielen Fällen unproblematisch, da sich einige Dinge aus dem Weltwissen erklären lassen. Hubert Schleichert erklärt das Phänomen an folgendem Beispiel:

Man argumentiert korrekt, aber enthymematisch, wenn man sagt: Sokrates ist sterblich, denn er ist ein Mensch. Durch explizites Hinzufügen des nur im Geiste (en thymo) formulierten, aber nicht ausgesprochenen Arguments Alle Menschen sind sterblich wird daraus die Standardform eines korrekten logischen Schlusses: Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; also ist Sokrates sterblich. Bei Bedarf kann eine enthymematische Argumentation durch Hinzufügen der fehlenden Argumente also stets auf die Form eines vollständigen Schlusses gebracht werden. 

In: Schleichert, Hubert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken. München 20055, S. 17.

Albers Ben Chamos Argumentation kann von Lesenden nachvollzogen werden, die – wie sie in genannter Aussage voraussetzt – mit Merkels Regierungsstil einverstanden sind. Da der Artikel, der nur wenig eigene Argumentation aufweist, hauptsächlich auf der Annahme beruht, dass Merkel „mal wieder“ gut gehandelt habe, wird er wenig überzeugend sein für diejenigen, die Merkels Beschluss kritisch gegenüber stehen.

Wollte man die fehlende Prämisse ergänzen, sodass eine (nach Sokrates) widerspruchsfreie Konklusion entsteht, so müsste die Autorin erklären, weswegen Merkel oft gut gehandelt hat. Dass der Raum, den die Tageszeitungen den Kommentaren einräumt, begrenzt ist, ist als sehr wahrscheinlich anzunehmen. Somit würde es den Rahmen sprengen, eine Biographie Merkelscher Entscheidungen einzufügen. Dennoch würde ein Hinweis, etwa Verweise auf eventuell vergangene Artikel der Autorin oder externe Links, die das Argument unterlegen, dieser Problematik entgegenwirken.

http://www.stern.de/politik/deutschland/jan-boehmermann–merkel-ist-schlauer-als-der-poebelnde-rest-6800742.html zuletzt abgerufen am 29.06.2016.

Tagesspiegel: „Auf die Haltung der Kanzlerin ist kein Verlass Es gibt Gründe für die Entscheidung Merkels in der Causa Böhmermann. Aber eine andere Entscheidung wäre möglich gewesen. Und nötig.“

Bereits die Überschrift des Kommentars weist deutlich darauf hin, dass der Autor nicht hinter der Entscheidung Merkels steht, die Strafverfolgung Böhmermanns zu unterstützen. Einen inhaltlichen Rahmen erhält der Kommentar vor allem durch zwei sich ähnelnde Argumente, eines zu Beginn und eines am Ende, die im Folgenden genauer Betrachtet werden. Zwischen diesen beiden Argumenten, die anscheinend der Meinung des Autors entsprechen, werden einige mögliche negative Auswirkungen der Entscheidung Merkels angesprochen. So unter anderem die völlig veraltete Grundlage, eine Spaltung der Nation oder der Schaden für das Ansehen der Türkei. Es wird suggeriert, dass die Kanzlerin wider die Meinung der Bevölkerung handelt und sich damit nicht nur sämtliche Chancen auf eine Wiederwahl verspielt, sondern vor allem der AfD den Weg vor den nächsten Wahlen ebnet.

Wenn es nur um Recht und Gesetz gegangen wäre, wie die Bundeskanzlerin mit allen ihren Worten nahezulegen versucht hat – dann wäre es ihr genauso möglich gewesen, die deutsche Justiz nicht von staatlicher Seite aus zur Strafverfolgung gegen den ZDF-Moderator Jan Böhmermann zu ermächtigen.

Die Aussage vermittelt den Eindruck, dass es der Kanzlerin bei ihrer Entscheidung niemals (nur) um Recht und Gesetz gegangen sei, da sie ja offensichtlich bessere Entscheidungsalternativen gehabt hat. Dem Rezipienten wird vermittelt, dass hinter der getroffenen Entscheidung Merkels eine ganz andere Motivation steht, als die von ihr genannte. Was ihre Gründe gewesen sein könnten bleibt offen. Insgesamt wird dadurch ein Gefühl von Unsicherheit geweckt. Gerade die Passage „…wie die Bundeskanzlerin mit allen ihren Worten nahezulegen versucht hat…“ weist darauf hin, dass alle Versuche, das gezeigte Verhalten zu erklären, sinnlos gewesen seien und nicht vertuschen können, was tatsächlich hinter dem Vorgehen steckt. Dass dabei den Rezipierenden kein Hinweis auf mögliche tatsächliche Gründe geliefert werden, scheint Absicht zu sein. Dies vermittelt den Eindruck, man könne – wäre man selbst nur gut genug informiert – ganz selbstverständlich wissen was, eigentlich hinter dem Ganzen steht. Zudem wird durch die vage Formulierung das Gefühl geweckt, den Entscheidungen der Kanzlerin nicht trauen zu können, da sie offensichtlich eine ohnehin schon medienträchtige Diskussion nutzt, um eigene Belange (?) durchzusetzen oder zu vertuschen.

„Ach, eines noch: Gewaltenteilung in Deutschland wäre auch ohne Merkels Kotau gewährleistet. Der Rechtsstaat wird seiner Aufgabe gerecht, die Justiz kann Recht sprechen, so viele Strafanzeigen, wie bei der Staatsanwaltschaft Mainz eingegangen sind, darunter die von Erdogan – rechtlich nimmt das Verfahren seinen Lauf. Darauf kann man vertrauen. Auf die Haltung der Kanzlerin nicht.“

Das abschließende Argument scheint auf den ersten Blick wie eine fast vergessene Randbemerkung. Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass das genaue Gegenteil der Fall ist: Zum Ende des Kommentars wird das Anfangsargument nochmal aufgegriffen und ein direkter Bezug zu der Überschrift hergestellt, die deutlich darauf hinweist, dass die Entscheidung Merkels anders hätte ausfallen müssen. Den Rezipierenden wird zum Abschluss suggeriert, dass Böhmermanns Verhalten in jedem Fall verfolgt wird und die deutsche Gewaltenteilung eben nicht auf das Eingreifen der Kanzlerin angewiesen ist, um Recht zu sprechen. Auch hier wird erneut die Haltung der Kanzlerin in Frage gestellt und die vorab geschaffene Unsicherheit bezüglich der wahren Motivation Merkels bietet hierfür einen fruchtbaren Boden. Es wird suggeriert, dass, betrachtet man das Ganze einmal logisch, Merkel ja offensichtlich etwas zu vertuschen versucht. Welche Gründe sollte es sonst für ihre Einmischung in ein Verfahren geben, dass ohne sie den exakt gleichen Verlauf genommen hätte? Ohne auch nur ansatzweise anzudeuten, was nach Meinung des Autors hinter Merkels Verhalten stecken könnte wird dem Lesenden vermittelte, dass der Kanzlerin nicht zu trauen ist und ihre Entscheidung nicht nur unnötig, sondern – so die möglichen Folgen die im Kommentar aufgeführt werden – für alle Beteiligten schädlich sei.

http://www.tagesspiegel.de/politik/merkel-und-boehmermann-auf-die-haltung-der-kanzlerin-ist-kein-verlass/13455164.html zuletzt abgerufen am 29.06.2016.

Zeit: „Ein fatales Signal“

Zunächst stellt die Autorin Carolin Ströbele dar, dass Merkels Entscheidung, den Fall Böhmermann an die deutsche Justiz zu übergeben, für Böhmermann selbst kaum einen Unterschied mache, da gegen diesen ja sowieso ermittelt werden müsse. Hierbei unterschlägt sie allerdings die Möglichkeit einer weitaus höheren Bestrafung, die Artikel 103 StGB bei einer Verurteilung mit sich bringen könnte. Mit dem Nebensatz „… wird der Prozess gegen ihn höchstwahrscheinlich mit einem Freispruch enden“ stellt sie das Verfahren gegen Böhmermann bereits ein, legt sich allerdings mithilfe des Einschränkungsoperators „höchstwahrscheinlich“ nicht komplett fest. Dieser Schachzug mildert die Schwere der Ermittlungen gegen Böhmermann, trotz eigentlich noch unklarem Ausgang, extrem ab.
In dem Kommentar wird die häufig artikulierte Befürchtung des Verlusts der Kunst- und Satirefreiheit nach Merkels Entscheidung mehrfach aufgegriffen und hinterfragt. Die Autorin missbilligt, dass sich Merkel mit den Worten „bewusst verletzend“ persönlich zu Böhmermanns Schmähkritik geäußert habe und unterstellt ihr damit das Einmischen der Politik in Geschmacksfragen. Eine eigene Meinung stehe Merkel selbstverständlich zu, nicht aber die öffentliche Äußerung dieser. Warum dieses Einmischen immer einen unguten Beigeschmack habe, verdeutlicht sie anhand einer vergangenen Debatte zwischen Kunst und Politik (Verweis auf Klaus Staeck und Hans-Dietrich Genscher 1974). Hier wird also eine Verbindung von einem vergangenen zu einem aktuellen Vorfall gezogen, die Ströbele beide zu Lasten der Politik interpretiert und somit ihre Meinung, nämlich keine Einmischung der Politik in Kunstfragen, untermauert.

Weiterhin hält die Autorin fest, dass Merkel aus dieser Affäre beschädigt herausgehen werde, da sie vor dem türkischen Präsidenten eingeknickt sei und die Kunst- und Satirefreiheit auf dem Altar des politischen Pragmatismus geopfert habe. Diese Urteilsfällung bezüglich Merkels Zukunft wirkt endgültig und manipulativ, da Ströbele die Schädigung Merkels nur subjektiv annimmt und nicht beweisen kann.

Abschließend verdeutlicht Ströbele nochmal, dass der Fall Böhmermann gerade für die Wichtigkeit der Kunst- und Satirefreiheit maßgeblich sei, da Satire in Deutschland ganze Regierungen auf Trapp halte. Folglich stärke die Causa Böhmermann die Kunstfreiheit, da sie in die politische Historie eingehen werde. In diesem Kommentar wird häufig mithilfe subjektiver Prophezeiungen gearbeitet, die wie unanfechtbare Tatsachen angeführt werden und die Lesenden auf diese Weise versuchen zu manipulieren.

Bezüglich der Herangehensweise die in diesem Kommentar verwendete Argumentation zu betrachten, kann gesagt werden, dass sich eine induktive Methode als empfehlenswert herausstellte. Hierbei geht es darum, durch die Analyse einzelner Textstellen einen allgemeinen Schluss zu ziehen. Gegensätzlich hierzu gibt es die deduktive Herangehensweise, also beispielsweise allgemeine Theorieansätze auf einen bestimmten Text zu beziehen. Der Versuch, die in der Einleitung erwähnte Toulmin-Theorie auf diesen Kommentar anzuwenden, scheiterte, da das Erkennen und Filtern von Schlussregeln sowie deren Argumenten erheblicher Übung bedarf. Weiterhin ist dieser Kommentar, was übrigens auch für viele andere Kommentare gilt, definitiv nicht nach dem Vorbild einer linguistischen Argumentationstheorie aufgebaut, also fehlen häufig Bestandteile dieser.

http://www.zeit.de/kultur/film/2016-04/jan-boehmermann-entscheidung-merkel-strafantrag-kunstfreiheit-kommentar

Welt: „In der Bosporus-Falle auf einem Schmutzreim ausgerutscht“

„Die Geschichte vom langsamen Niedergang von Bundeskanzlern wiederholt sich offenbar gelegentlich. Mal als Tragödie, diesmal wohl als Farce.“

Es wird suggeriert, der Untergang der Kanzlerin ist zum Greifen nahe und quasi schon in vollem Gange. Dem Rezipient wird unmissverständlich klar gemacht, dass es längst in aller Munde ist, dass die Kanzlerin nicht mehr in der Lage ist, das Land zu regieren und alles was unter ihrer Herrschaft folgt, eine Farce ist. Es wird von einem langsamen Niedergang und nicht von einem plötzlichen gesprochen, was der Kanzlerin wohl mehr Fehler einräumt, als die Causa Böhmermann, um die es hier eigentlich geht. Solche Niedergänge hätten sich offensichtlich in der Vergangenheit gehäuft, worauf aber nicht eindeutiger eingegangen wird. Dem Rezipient wird wieder suggeriert, jeder wüsste, dass es mit Staatsoberhäuptern nun mal öfter so tragisch oder als Farce zu Ende geht, was hauptsächlich durch das Wort „offenbar“ vermittelt wird. „Offenbar“ zeigt hier eine vermeintliche Selbstverständlichkeit an, die auf die Plausibilität der darauffolgenden Aussage appelliert und eine Absurdität der Aussage ausschließt, denn „es ist ja offensichtlich so wie es hier gesagt wird“.

„Sie [die Kanzlerin] winkt nach dem Paragrafen gegen Majestätsbeleidigung ein Strafverfahren gegen den ZDF-Dichter [Böhmermann] durch, der im Höchstfalle zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden könnte – so viel steht auch auf das Leugnen des Holocaust.“

 Dem Rezipienten wird hier die Kanzlerin erneut als Sündenbock vorgestellt, die quasi im Alleingang sein Urteil unterschreibt. (Sie alleine winkt es durch) Es wird außerdem das maximale Strafmaß für Böhmermann in dieser Sache mitgeteilt, um zu zeigen, was für große Konsequenzen dieses Durchwinken hat. Dies wird mit einem Strafmaß für ein möglichst absurdes und ernstes Vergehen verglichen – dem Leugnen des Holocaust. Erneut wird dadurch die Absurdität der Handlung der Kanzlerin in den Vordergrund gehoben und die Plausibilität des Niedergangs unserer Kanzlerin unumstößlich gemacht.

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154423072/In-der-Bosporus-Falle-auf-einem-Schmutzreim-ausgerutscht.html Stand: 25.05.2016 – 9:45.

Fazit

Bereits in der einführenden Zusammenfassung zur „Causa Böhmermann“ fällt es nicht ganz leicht, Stil und Wortwahl neutral zu gestalten, sind doch auch wir den medialen Einflüssen ständig ausgesetzt und quasi gezwungen, uns eine Meinung zu bilden, uns irgendwie in dem ganzen Geschehen zu positionieren.

Ebenso scheint es den Autor*innen der hier betrachteten Kommentare zu gehen, die ein und denselben Fall aus unterschiedlichsten, immer auf die eigenen Bedürfnisse zurechtgestutzten Perspektiven beschreiben. Aus jeder der betrachteten Argumentationen geht eindeutig hervor, wie die Verfassenden einerseits persönlich zu der Debatte stehen, und welche Haltung sie andererseits auch von den Rezipierenden erwarten.

Sehr wohl dienen die unterschiedlichen argumentativen Vorgehensweisen also dazu, bestimmte Positionierungen zu verdeutlichen und die Lesenden dabei zu begleiten, sich eine „eigene“ Meinung zu bilden.

©Stefanie Herrmann, Alexandra Zürbes, Marc Huber, Svenja Prasche

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